Homepage / Suche / Gästebuch / Impressum

Russland 2017 – Alёna zeigt uns ihre Welt


Etwa eine halbe Stunde später kommen die Frauen heraus und es beginnt ein Ritual. Eine der Frauen hat einen Teller mit – ich würde sagen – Salzkartoffeln, die andere hat eine Schüssel mit einer weißen Suppe drin und einem Löffel, der reihum gereicht wird.

Die Suppe ist höchstwahrscheinlich окрошка (Okroschka), ein russisches Nationalgericht. Okroschka ist eine kalte Suppe aus Kefir, Lyoner, hartgekochtem Ei, Radieschen, Gurke, Petersilie, Schnittlauch, scharfem Senf, Pfeffer, Salz und „Unmengen“ von Dill, alles kleingekrümelt, daher auch der Name окрошка von крошить = krümeln. Dass die Zutaten gekrümelt sind, ist allerdings das kleinste Problem. Doch wenn dir als Ausländer diese Ehre zuteilwird, musst du durch. Das Ritual abzulehnen, würde den Gastgeber aufs Übelste beleidigen. Dann geht’s wieder nach drinnen, wieder Schuhe aus, Hausschuhe an.

Der Tisch ist festlich gedeckt: Brot, Tomaten und Gurken, Wurst, Pflaumen (das Besteck, Messer Gabel, Löffel akkurat neben den Tellern, wie ich es nie platzieren würde) und mitten auf dem Tisch eine Schüssel, die auf den ersten Blick aussieht wie irgendeine Waldbeeren-Sahne-Nachspeise. Das müssen wir zuerst probieren. Die Großmutter fordert uns auf, zu nehmen und uns ja nicht zu zieren. Es ist genug da und in Russland sollte niemals jemand hungrig vom Tisch aufstehen.

Die vermeintliche Süßspeise entpuppt sich als селёдка под шубой (Hering unter dem Pelzmantel). Dieses Gericht stammt aus der Zeit der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als wir in Deutschland Mett- oder Käse-Igel, Russische Eier oder Schinkenröllchen aßen, und ist in Russland etwas ganz Außergewöhnliches. Entsprechend sollte man das als Gast auch würdigen.

Jede Hausfrau hat ihr eigenes Rezept und natürlich wird das nicht verraten. Ich weiß nur, dass dazu neben Matjesfilets auch Zwiebeln, gekochte Kartoffeln, Rote Beete, Karotten, Äpfel, Eier, Petersilie und Unmengen Dill verarbeitet werden.

Das wird dann in den Kühlschrank gestellt und – damit man die Schichtung auch sehen kann – wie ein Tortenstück serviert.

In Russland heißt „Hering“ übrigens селёдка (gesprochen: Siljótka). Jetzt weiß ich auch, wie der Reim „водка-селёдка“ (Wodka- Siljótka) entstanden ist. Einen Wodka bräuchte man jetzt wirklich.

Ich greife beherzt zu Gemüse aus dem eigenen Garten, zu Tomaten und Gurken sowie zu köstlichem Schwarzbrot. Das schmeckt richtig lecker.

Jetzt ist es an der Zeit, dass Alёna einen handgeschriebenen Brief des Großvaters vorliest. Er kann leider nicht bei uns sein und wäre doch so gerne dabei gewesen. Der Text ist so herzlich, dass einem fast die Tränen kommen.

Zum Abschluss des Nachmittags gibt es draußen im Garten Tee, Gebäck, Kuchen und Stachelbeeren aus eigener Zucht. Jetzt kann ich erneut herzhaft zugreifen.

Die Großmutter, Olga, Alёna und die Cousine spielen Дура́к (Durak), was nichts anderes bedeutet als „Dummkopf“. Durak ist das traditionelle russische Kartenspiel schlechthin, in der Bedeutung vielleicht vergleichbar mit Schafkopf in Bayern.

Ein Durak-Spiel hat 36 Karten in vier Farben. Nach dem Mischen erhält jeder Spieler aus dem Stapel sechs Karten. Die nächste Karte wird – mit dem Bild sichtbar – als Trumpf quer unter den Stapel gelegt. Das Spiel beginnt mit dem Angreifer … und ab jetzt versteh ich nichts mehr.

Darum geht´s aber auch gar nicht. Was mir an diesem Nachmittag besonders gefällt: Russen spielen Durak mit einem Kartenspiel, das ihnen der deutsche Schwiegersohn von einem USA-Aufenthalt aus Las Vegas mitgebracht hat, und die deutschen Eltern schauen betröppelt zu.


Seiten: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77