Bewundern und Staunen – Wolfgangs Freys „Miniaturwelten Stuttgart“
Die Miniaturwelten Stuttgart
Vom Ausgang der Galeria Kaufhof bis zu den Miniaturwelten Stuttgart sind es zu Fuß gerade mal zwei Minuten.
Wir zahlen pro Person 9,00 € Eintritt (für Senioren gibt es leider keine Ermäßigung!) und gehen in die Ausstellung. Das erste, was uns ins Auge fällt, ist die gigantische Größe der N-Anlage, 180 m² sollen es sein. Damit ist Freys Anlage rund 100 Mal größer als meine eigene zu Hause.
Während wir uns die tolle Anlage anschauen, wird uns bewusst, dass wir hier im Stuttgarter Raum nicht nur eine Reise in die Modellbahnwelt unternehmen, sondern auch eine Reise in unsere „Jung-Zeit“. Ich war Anfang der 1970er in Stuttgart Feuerbach in der Berufsschule und Susanne hat in den 1980ern in Stuttgart beim Boje Verlag gearbeitet.
Wolfgang Freys Anlage
Die Innenstadt
Da stehen wir nun vor Wolfgang Freys gigantischem Lebenswerk. Die Anlage bildet eine wahre Welt im Miniaturformat ab: Da ist nicht nur der Stuttgarter Hauptbahnhof dargestellt mit seinen ausladenden Nord- und Südflügeln. Da werden auch andere markante Stuttgarter Bauwerke gezeigt, z.B. das Schloss, die Staatsgalerie, der Fernsehturm die Wilhelma, das Schloss Rosenstein und natürlich die ganze Stuttgarter Innenstadt, der Pragfriedhof und die Eisenbahnlinien nach Ludwigsburg und Cannstatt.
Wir kennen die Anlage noch von Herrenberg her, wo Susanne und ich sie bei einem unserer ersten Fährtle mit dem „Katzabärle“ zwischen Weihnachten und Silvester 2019 besuchten.
Als erstes gehe ich zum 16-gleisigen Stuttgarter Kopfbahnhof und zum 56 Meter hohen Uhrturm mit dem rotierenden Mercedes-Stern, den es so nicht mehr gibt.
Anschließend geht’s in die Innenstadt. Die Heilbronner Straße war damals offensichtlich schon genauso verstopft wie heute. Toll, wie die Blechkarawane dargestellt ist, die sich über den Kurt-Georg-Kiesinger-Platz hinweg, westlich am Stuttgarter Hauptbahnhofs vorbei dreispurig Richtung Zuffenhausen schiebt.
Quer zur Heilbronner Straße sieht es nicht viel besser aus. So von oben betrachtet kommt man sich vor wie in einem Hubschrauber, der langsam an Höhe gewinnt. Vorne kommt nun das Gebäude der in der Heilbronner Straße ehemals ansässigen Bundesbahndirektion ins Blickfeld. Durch seine Architektur und Färbung hebt es sich markant vom Rest der Umgebung ab.
Zwischen B14 und Bahn entlang des Mittleren und Unteren Schlossgartens
Wir „fliegen“ ein kurzes Stück über der Friedrichstraße südwärts, schwenken dann aber nach links über die Kronenstraße und setzen unseren Weg schließlich über den Oberen und Mittleren Schlossgarten nordöstlich weiter Richtung Bad Cannstatt fort.
Während wir über den Unteren Schlossgarten „fliegen“, sehen wir links unter uns die charakteristischen Überwerfungsbauwerke mit den unten liegenden Gleisen der Strecke nach Bad Cannstatt und den darüber verlaufenden Gleisen der Gäubahn und der Strecke nach Ludwigsburg.
Aus der Vogelperspektive – so zumindest mein Eindruck – ist das Modell vom Original fast nicht mehr zu unterscheiden.
Gebaut hat dieses Kunstwerk mit viel handwerklichem Geschick, Abfallmaterialien, Sperrmüll, Farbe, Klebstoff ein einziger Mann, der ehemalige Stuttgarter Fahrdienstleiter Wolfgang Frey. Die Anlage umfasst 450 maßstabsgetreue Gebäude, rund 4.000 Bäume, 2.500 Fahrzeuge, 540 Weichen, 90 Hauptsignale und viele, viele weitere Details.
Um alles möglichst genau wiederzugeben, soll Frey – so sagt man rund 50.000 Fotos geschossen haben – und das zu Zeiten, in denen es noch keine Digitalkameras gab, sondern lediglich solche mit 35-mm-Film.
Lange Zeit galt Freys Anlage als „Geheimprojekt“. Sie soll irgendwo in einem für die Öffentlichkeit gesperrten Raum in der Nähe der Schwabstraße untergebracht gewesen sein. Nach Freys allzu frühem Tod – er starb 2012 mit nur 52 Jahren – hat ein gewisser Rainer Braun die Anlage 2016 gekauft, nach Herrenberg gebracht und dort – ich glaube, es war im Erdgeschoss des Hotels „Botenfischer“ öffentlich als „Stellwerk S“ ausgestellt.
Nach Norden
Wir „fliegen“ – die Gleise nach Ludwigsburg unter uns – weiter nach Nordwesten, vorbei am alten Postzentrum und dem Bahnbetriebswerk. Auch hier kann man – wenn man nur die Bilder betrachtet – schwerlich sagen, ob es sich um ein Modell handelt oder ob es die Wirklichkeit ist. So perfekt hat Frey seine Ideen umgesetzt.
Pragfriedhof
Kurze Zeit später „überfliegen“ wir den Pragfriedhof, wo u. a. so bekannte Stuttgarter wie Eduard Mörike, Schriftsteller, Ferdinand Graf von Zeppelin, Luftschifffahrtspionier, Louis Leitz, Erfinder des Leitz-Ordners, und die Kabarettistin und Sängerin Claire Waldoff ihre letzte Ruhe fanden.
Für diesen Bereich soll Frey aus Radiergummis und Balsaholz mehrere Tausend Grabsteine gefertigt und manche sogar – so wird gemunkelt – mit Namen von Menschen beschriftet haben, die er nicht leiden konnte.
Von der Schiffsanlegestelle Wilhelma bis zu den Weinbergen bei Untertürkheim
Vom Pragfriedhof aus geht’s weiter nach Nordosten – über den Rosensteinpark hinweg (in den echten Rosensteinpark wollen wir morgen gehen) zur „Anlegestelle Wilhelma“ der Neckar-Personen-Schifffahrt Berta Epple. Mann, werden da Erinnerungen wach!
Ich glaube, ich war so acht oder zehn, als meine Eltern – Urlaub war seinerzeit ja nicht drin – uns Kindern (und auch sich selbst) eine „Kreuzfahrt“ auf dem Neckar gönnten. Da sind wir damals genau hier gestartet. Kurz nachdem wir ablegten ging’s dann unter der Rosensteinbrücke hindurch, wo uns von oben Fahrradfahrer und Fußgänger zuwinkten.
Wir hatten die Eisenbahnbrücke noch kaum durchquert, als die „MS Wilhelma“ langsamer wurde. Der Ausflugsdampfer fuhr nämlich in die Schleusenkammer der Schleuse Bad Cannstatt ein. Dabei erzählte der Kapitän allerlei Geschichten, die mich aber nicht interessierten. Vielmehr interessierte mich, wie die riesige Betonwand hinterm Schiffsgeländer plötzlich nach unten fuhr. Dass in Wirklichkeit nicht die Mauer versank, sondern das Schiff angehoben wurde, das verstand ich damals nicht. Für so etwas ist das Schiff doch viel zu schwer.
Dann bewegte sich die Mauer auf einmal nicht mehr und vorm Ausflugsdampfer wurden Tore aufgemacht. Ich rannte hin, aber der befürchtete Wasserschwall kam nicht. Das Wasser vorm Tor war gleich hoch wie das Wasser neben dem Schiff und so konnten wir „ebenerdig“ (oder heißt das jetzt „ebenwassrig“?) auf dem Neckar weiterfahren, vorbei am Cannstatter Wasen, am Neckarstadion und auch an den Weinbergen, die Frey ebenfalls gestaltet hat.
Nach dem Wahnsinns-Ereignis „Schleusendurchfahrt“ war der Neckarhafen Obertürkheim für mich dann nicht mehr so interessant. Welches Kind interessiert schon dafür, wie Kohle, Kies und Schrott ein- oder doch eher ausgeladen wird?
Umzug der Frey’schen Anlage nach Stuttgart
Zurück zur Anlage. Seit Januar 2022 steht die Anlage nun im ehemaligen Hindenburgbau direkt gegenüber dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Aber knappe zwei Jahre später titelt die Stuttgarter Zeitung bereits: „Ist »Klein-Stuttgart« bald Geschichte?“ Offenbar läuft es gar nicht so gut bei den Miniaturwelten Stuttgart.
Die Eintrittsgelder der wenigen Besucher (ich schätze nur einige Zehntausend pro Jahr) und die Spenden reichen einfach nicht aus, um dieses einzigartige Projekt auf Dauer zu erhalten.
Aber warum ist man dann von Herrenberg weg nach Stuttgart gezogen? Ich kann den Grund nur ahnen.
- Vielleicht hat der Betreiber, ein gemeinnütziger Verein, zu sehr auf die kulturelle Bedeutung und das Prestige für die Stadt Stuttgart gesetzt
- Vielleicht hat man gehofft, dass Stuttgart mit seiner größeren Bevölkerungsdichte mehr Besucher anzieht, sowohl Einheimische als auch Touristen.
- Vielleicht hat man aber auch geglaubt, dass komfortablere Ausstellungsräume und die modernere Infrastruktur einer Großstadt für die Präsentation dieses einzigartigen Stadtmodells – immerhin des größten in Europa – besser geeignet sind.
Ich weiß es nicht. Jedenfalls scheint der Plan nicht aufzugehen.
- Auch wenn die Anlage als historisches Dokument der Stadt Stuttgart angesehen werden kann, wird sie von der Stadt – wie man das beispielsweise von Museen her kennt – nicht gefördert. Auch die Deutsche Bahn hat keinerlei Interesse an einer Beteiligung.
- Die Mietpreise in Stuttgart – zumal an so exponierter und hochfrequentierter Lage wie dem Arnulf-Klett-Platz sind astronomisch. Ich habe gehört, dass der Quadratmeter-Preis bei 80, teilweise sogar bei 120 € liegen soll.
Schlussendlich kommt man – Jetzt, wo das ganze Gebiet wegen Stuttgart 21 eine einzige Baustelle ist – nach meiner Erfahrung kaum hin. Der nächstmögliche Parkplatz in der Galeria Kaufhof ist mit 6.60 € für zwei Stunden (so lange braucht man schon, um die Anlage anzusehen) auch nicht gerade günstig.
Auch wenn mir und anderen Modelleisenbahnern das Herz blutet: Die Zukunft von Stuttgarts Miniaturwelten steht auf sehr, sehr wackeligen Beinen.
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