Mittwoch, 21. Dezember 1988
Auf dem Weg nach Victorias
Ich habe wundervoll geschlafen. Leider ist aber das Stiftchen am Armband meiner Uhr, das ich vor 1½ Wochen in Puerto Princesa hab reparieren lassen, schon wieder gebrochen. Die muss ich unbedingt reparieren lassen, aber zunächst muss ich mal sehen, wie ich zur Victorias Milling Company in Victorias komme.
Wenn es stimmt, was in meinem Reise-Handbuch steht (in Ma-ao gestern hat’s ja nicht so hingehauen, da hat die Zeit das Buch ganz offensichtlich überholt) soll es in Victorias 60 Jahre alte, schmalspurige Henschel Lokomotiven geben, die dort zur Zuckerrohrente eingesetzt werden. Selbst, wenn das nicht stimmen sollte, ich bin schließlich über 10.000 Kilometer hierhergeflogen, sollten mich die 30 Kilometern nach Victorias nicht abschrecken. Die Busse oder Jeepneys nach Victorias fahren vom Northern Busterminal aus ab, rund fünf Kilometer weiter nördlich. Da ich so weit nicht laufen will, nehm’ ich mal wieder ein Jeepney. Das ist praktisch, denn die fahren alle paar Minuten und kosten innerhalb der Stadt 1 ₱. Für die fünf Kilometer durch dir Stadt braucht er aber trotzdem zwanzig Minuten…
Jeepney nach Victorias
Am North Terminal stehen die Jeepneys schon abfahrbereit da. Der nach Victorias geht um acht. Während der Fahrt kommt die Sonne langsam durch die Wolken und die feuchte Luft wird zunehmend wärmer. Um dreiviertel neun sind wir am Victorias Public Market Place und dort hat man direkt Anschluss zur drei Kilometer nördlich das Stadtzentrums gelegenen Victorias Milling Company. Man muss nur nach VMC oder ViMiCo fragen.
Victorias Milling Company
Victorias Milling Company – laut Reiseführer eine der größten und ältesten Zuckermühlen der Philippinen, sei 1919 von Don Miguel J. Ossorio gegründet worden. Warum gerade hier? Klar, Negros Occidental ist das perfekte Zuckerrohranbaugebiet. Nach zehn Minuten Fahrt sind wir da. Aber statt einer reinen Fabrik sehe ich ein kleines Dorf: Schulen, Kirchen, Restaurants – und mittendrin eine Zuckerfabrik.
Für die Besichtigung der Victorias Milling Company braucht man ein „permit“, also such ich such’ das Public Relation Office, nur wo? Da fällt mir ein Typ in Uniform auf – blaue Hose, weißes Hemd, Schlips und eine Mütze wie sie Wussow vor zehn Jahren in der Fernseh-Serie „Sergeant Berry“ trug. Den frag ich. Er ist ja ganz nett, aber was ihn deutlich von Wussow unterscheidet, ist das Sturmgewehr, das er bei sich trägt. Das gefällt mir nicht so. Er bringt mich in ein Büro und schwupps hab ich die Genehmigung.
Auf geht’s zur Erkundung der Milling Company. Doch kaum habe ich meine Kamera aus der Tasche geholt, stoppt mich der Typ mit „No photos!“ Angeblich wegen eines neuen Verfahrens zur Herstellung von weißem Zucker. Echt jetzt? Will der mich verarschen? Weißen Zucker gibt’s seit Jahrhunderten! Vielleicht steckt ja was anderes dahinter. Ich könnte mir vorstellen, dass das mit der politischen Situation hier zu tun hat. Seit dem Sturz von Marcos vor knapp drei Jahren und Aquinos Landreformprogramm CARP, das sie im Juni unterzeichnete, gab es immer wieder politischen Zoff. Die Großgrundbesitzer sind sauer, und die New People’s Army (NPA) stellt sich auf die Seite der Landarbeiter. Das führt immer wieder zu Konflikten. Aber was hab ich damit zu tun? Die Frage stellt sich gar nicht. Jedenfalls ist es besser, kein Risiko einzugehen. Die Kamera bleibt in der Tasche. Auch, wenn es mir schwer fällt. Manche Ereignisse bleiben einem auch ohne Fotos in Erinnerung.
Lokomotiven und christliche Wut
Die Lokomotiven will ich mir unbedingt noch anschauen. Diese stehen fein säuberlich hintereinander aufgereiht gleich gegenüber dem Footballfeld, u.a. sieben Henschel 0-8-0Ts, alle in dunklem Grün mit roten Streifen. Von der Lackierung her (dunkelgrün mit roten Zierstreifen) erinnern sie mich an preußische Länderbahn-Lokomotiven. Allerdings sind die hier alle auf 2ft (600mm) umgespurt und so umgebaut, dass sie mit Zuckerrohrabfällen befeuert werden können. Dafür haben sie einen trichterförmigen Schornstein und einen großen, mit Holzlatten verkleideten Tender auf dem das Brennmaterial aufgestapelt ist.
Neben den deutschen Loks gibt’s auch ein paar andere. Deren Grün ist heller und die roten Zierlinien fehlen ganz. Diese Loks haben .die Achsfolge 0-4-4 T, d.h. dass die ersten zwei Achsen angetrieben sind und die Achsen 3 und 4 „nur“ stabilisierende Nachlauf-Achsen sind. Das soll – wegen der besseren Gewichtsverteilung – Vorteile bringen beim Rückwärtsfahren. Auf den Maschinenschildern lese ich „W. G. Bagnall Ltd“. Davon habe ich noch nie was gehört. Jetzt bin ich schon zwei Stunden unterwegs. Das Permit hat niemand mehr sehen wollen, und Waffen hab ich auch keine mehr gesehen. Trotzdem lass ich die Kamera lieber in der Tasche. Wer weiß, ob nicht doch einer hinter einer Mauer hockt und von dort aus einen auf „Top Shot“ macht.
Jetzt bin ich vor Ort, um die halbe Welt gereist, sehr die Loks und darf nicht fotografieren. Hätte nie gedacht, dass der ganze Marcos-Scheiß – und ich bin mir sicher, dass es damit zusammenhängt – auf dem Land noch so nachwirkt.
St. Joseph-the-Worker-Chapel
Was man in Victorias Milling – außer den Loks – auf jeden Fall auch noch sehen muss, ist die „St. Joseph-the-Worker-Chapel“ im Süden des Fabrikgeländes. Die Kirche (Kapelle) wurde Ende der 1940er vom tschechisch-amerikanischen Architekten Antonín Raymond entworfen und soll erdbebensicher sein. Ihr Glockenturm erinnert mich trotz des Kreuzes auf der Spitze irgendwie an einen Öl-Bohrturm. Aber ich war nicht wegen des Gebäudes da. Viel mehr soll es innen ein quietschbuntes Altarbild geben, das einen „Angry Christ“ zeigen soll, einen „wütenden Christus“. Die Sanftmut in Person wütend? Das will ich mir ansehen.
Schon von der Locsin Avenue her fällt die riesige Nordfassade auf, 25 Meter breit, 10 hoch. Über dem Eingang ein dreiteiliges Mosaik: Jesus, Maria, und Joseph in der Mitte, rechts eine Szene, die wohl Jesus beim Heilen eines Kranken zeigt, vielleicht ist es Lazarus? Was das links sein soll, kann ich nicht erkennen. Die Mosaike stammen von der belgischen Künstlerin Adelaide de Bethune, was der Kirche einen europäischen Touch gibt. Drinnen ist es überraschend hell. Das liegt wohl am Glasdach, das fast den gesamten Raum überspannt. Ein Mittelgang führt zwischen zwei Reihen Holzbänken direkt zum Altar. Und da ist es: Alfonso Ossorios „Angry Christ“. Jesus mit ausgebreiteten Armen, ein flammendes Herz in der Brust und knallrote Hände, die ihn halten. Darüber ein blau-grünes Band mit asiatisch wirkenden Gesichtern und dem Dreieck-Auge Gottes. Die Farben knallen, für mich fast schon zu viel. Ob der Altarbild-Ossorio etwas mit dem Milling-Company-Gründer Ossorio zu tun hat, weiß ich nicht. Vielleicht ist Ossorio auf dem Philippinen ja auch ein Allerweltsname wie bei uns „Müller“ oder Schmidt.
Victorias
Gegen dreiviertel zwei Uhr bin ich wieder draußen aus Victorias Milling Company. Um zwei kommt der Jeepney, der mich zum Victorias Public Market Place bringt. Dort ist alles wieder normal, keine Gewehre, keine Aufregung. Was dann die Bewaffneten bei der Milling Company sollten, bleibt mir ein ewiges Rätsel. Das Jeepney nach Bacolod soll um drei abfahren.
Bis dahin hock ich mich erst mal in ein Café, um wieder im Jetzt und Hier anzukommen, wobei „Café“ vielleicht nicht das ist, was man sich in Europa darunter vorstellt. Das hier ist ein kleines betoniertes Gartenhaus mit einem Gitter als Fenster, davor ein Plastiktisch und zwei Hocker ohne Lehne. Kein besonderer Ort, aber er erfüllt seinen Zweck. Hier gibt es Kaffee – Nescafé, nichts Ausgefallenes – und ein süßes Stückchen, das ein bisschen zu klebrig, aber völlig in Ordnung ist. Ich sitze da, trinke meinen Kaffee und schaue auf die Straße. Autos und Mopeds rauschen vorüber und hin und wieder geht jemand zu Fuß entlang. Kein Drama, kein Spektakel. Damit ich das Erlebte nicht vergesse, schreibe ich hastig Tagebuch.
Bacolod – So richtig was für Oldies
Kurz vor vier bin ich endlich wieder am Northern Busterminal in Bacolod, sprich: in der Zivilisation. Es ist noch früh am Tag und so fahr ich gleich weiter in die Stadt. Zehn Minuten später steig ich am Negros Occidental Provincial Capitol aus. Das Gebäude sieht für mich so ein bisschen wie das „Weiße Haus“ in Washington aus, zumindest stelle ich mir das so vor.
Vor dem Capitol breitet sich der Bacolod Public Plaza aus, ein weitläufiger Park mit viel Grün und einem großen Teich mit „tausenden“ Fischen und einem Springbrunnen in der Mitte. Wenn man vom Capitol kommt, steht am linken Teichufer eine goldene Skulptur, die eine Frau mit einem Wasserbüffel zeigt. Genau gegenüber, am südlichen Teichufer steht – praktisch als Pendant – eine zweite, ein ebenfalls goldener Wasserbüffel, den ein muskulöser, nackter Mann versucht, ins Wasser zu schieben.
Im Chinatown Square, einem großen Kaufhaus, zehn Minuten vom Bacolod Public Plaza entfernt, bekomme ich dann auch ein neues „Stiftchen“ für mein Uhren-Armband und Postkarten, damit ich Bärbel berichten kann, was ich heute erlebt hab’. Anschließend suche ich mir was zu essen. Außer dem Kaffee und dem pappigen Plunderstück habe ich ja noch nichts im Magen. Halb fünf ist echt eine blöde Zeit, um Essen zu gehen. Daher gehe ich einfach zum Kong-Kee, einer Art chinesischer McDonald. Dort zeige ich auf etwas, was kein Mensch aussprechen kann, was aber sehr gut schmeckt. Es ist ganz offensichtlich Weißkraut mit Rind, Naturreis, Zwiebeln, Karotten, Knoblauch und Ingwer. Schmeckt super! Der Wok ist kräftig gewürzt, das Fleisch zart und der Reis perfekt. Genau das Richtige für mich.
Den Kilometer bis zum City Placa lauf ich jetzt lieber. Da bin ich – wenn der genauso schnell fährt wie heute früh – fast genauso schnell wie der Jeepney.
Bist Du riesig!
Nachdem ich wirklich lecker gegessen habe, gehe weiter Richtung Bacolod City Placa und Ang Sinugba, wo ja heute Abend ja der Oldie-Abend stattfinden soll.
Unterwegs kommt ein kleiner Junge auf mich zu, guckt mich von unten bis oben an und fragt mit offenem Mund, ob ich Basketballspieler sei. „You’re so huge!“ Ich find’ das witzig, setz’ mich kurz zu ihm runter und erklär ihm, dass die meisten Europäer so groß wie ich sind, aber Basketball in Europa nicht so populär ist wie beispielsweise hier auf den Philippinen. Nach einer kurzen Weile rennt er stolz davon. Für ihn war es ein echtes Highlight, mit einem „großen Europäer“ gesprochen zu haben.
Kathedrale von San Sebastian
Bevor der Oldie-Abend beginnt, gehe ich noch kurz in die Kathedrale von San Sebastian. Auffallend sind die weißen Arkaden an den Längsseiten und das weiße Tonnendach. Der Innenraum dagegen, auch die Holzbänke, sind schlicht, aber ganz offenbar ausreichend. An den Wänden gibt es religiösen Darstellungen, die Szenen aus dem Leben Christi und heilige Figuren zeigen. Zum Chor, dem Bereich um den Altar herum, geht es vier Stufen hoch. Dahinter, in einer Nische, die auf beiden Seiten von Säulen flankiert wird und oben ein dreieckförmiges Dach hat, steht vor einer roten Wand eine mannshohes Jesusfigur.
Als ich rausgehe aus der Kirche, ist es bereits dunkel.
Oldie-Abend im Ang Sinugba
Offenbar bin ich zu früh, den im Ang Sinugba ist – was Oldie-Abend betrifft – absolut nichts los. Aber bei einem Bier und Gesprächen mit anderen Backpackern „Wo kommst du gerade her?“ vergeht die Zeit recht schnell. Ein Belgier spricht von den Reisterrassen in Banaue und eine Australierin schwärmt von den Korallenriffen im Apo Reef Natural Park. Ich erzähl vom „Underground River“ auf Palawan. „Da müsst ihr unbedingt hin. Allerdings müsste ihr 15 km laufen. Man kann, so wie ich auf dem Rückweg, auch ein Auslegerboot nehmen, aber ich rate euch: Fahrt erst, wenn das Meer ruhig ist. Ansonsten müsst ihr eben in der Rangerstation ausharren. Nehmt also genügend zu essen mit.“
Dann geht’s los mit dem Oldie-Abend: Die Band spielt einem Hammer nach dem andern; Animals „House of Rising Sun“, Righteous Brothers „Unchained Melody“, Temptations „My Girl“. Es folgen Hit auf Hit „Hello darkness, my old friend …“ von Simon & Garfunkel, „I got you, babe“ von Sony & Cher oder „When a man loves a woman“ von Percy Sledge und, und, und …
So geht es den ganzen Abend. Da könnte ich bleiben, bis morgen der Bus fährt. Als aber gegen 22:00 Uhr Carole Kings „Will you still love me tomorrow“ gespielt wird, haut’s auch den härtesten 70er-Jahre-Fan weg. Ich muss gehen, ich muss „nach Hause“. So wehmütig kann ich mich nirgends sehen lassen. Noch 20 Tage, bis ich wieder in Deutschland bin und dann hab ich Mittwoch bis Sonntag mit Bärbel. Fünf lange Abende mit ihr. Ich freu mich schon.
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