Sonntag, 11. Dezember 1988
Naturbeobachtungen am Morgen
Es ist fünf Uhr morgens. Godfrey, der Ranger, geistert schon herum. Da ich ohnehin sehr schlecht geschlafen hab, mir alles weh tut und ich zudem noch einen Mords Kohldampf hab, steh ich auf. Godfrey macht mir eine Tasse Nescafé und ein Schälchen mit geraspelter Kokosnuss. Das ist heute mein Frühstück. Nach dem lauf ich raus, Richtung Meer. Das ist heute früh fast 100 Meter weiter draußen als gestern. Das liegt wohl daran, dass vorgestern Neumond war. An solchen Tagen unterscheiden sich Ebbe und Flut gewaltig, was bei flachen Stränden diesen dann schon mal 100 Meter weiter verschiebt. Der „Tideflat“ – Watt heißt das, glaube ich, nur an der Nordsee so, ist übersäht mit Korallen und Muscheln. Was man hier so alles sieht, im Sand, im Schlamm und in den Kuhlen, ist fantastisch: Krebse, Fische, Muscheln und Seesterne. In einer kleinen Pfütze seh ich sogar Neons, wie wir sie zuhause in den Aquarien haben. Weiter draußen, auf einer Klippe, steht so was wie ein Kormoran. Ich schleich mich vorsichtig an, um ihn zu fotografieren. Doch trotz aller Vorsicht bemerkt er mich und flattert davon.
Fasziniert von der Natur hab ich gar nicht wahrgenommen, dass ich inzwischen gar nicht mehr allein bin. Ein Mann steht da, es ist Rogello, unser Boatsman.
„Aragon sent me. I’m supposed to pick up three travelers.“ „Aber wo ist das Boot?“, frag ich erstaunt. „Wind, sea and surf are far too strong today. We have to go to another bay where the sea is calmer.“ Wieder durch den Dschungel -hört das denn nie mehr auf? Wir gehen zum Ranger-House und erkundigen uns, wie’s nun steht mit Nathalie und Emir. Nach einigem hin und her (Emir ist zu geizig, Nathalie will nicht mehr laufen) einigen wir uns: Ich zahl 300 ₱ und sie zusammen 200 ₱.
Wieder mal hab ich die Arschkarte gezogen und es geht grad so weiter: Beim Versuch, den Film zurückzuspulen, hakt plötzlich was, doch ich schaff es schließlich, den Film in die Patrone zurück zu bekommen. Beim Öffnen der Kamera-Rückseite aber sehe ich die Bescherung: Der weiße, krustige Belag gehört da bestimmt nicht hin. Ich kratze ihn mit dem Taschenmesser weg und nehm’ die Filmpatrone raus. Ob der Film hinüber ist, zeigt sich dann zu Hause. Ich klappe die Rückwand zu und löse ich die Kamera ein paar mal aus. Als das geht, lege ich einen neuen Film (Kodak Elite Chrome 100) ein. Vorher kratze ich aber noch die Pole der LR44-Alkaline-Batterie ab.
Beschwerlich durch den Dschungel
Dann geht’s los. Wieder durch den Dschungel, wieder mit viel zu viel Gepäck. Rogello geht vorneweg, als das alles gar nichts wäre. Ob und wie wir hinter ihm nachkommen, scheint ihn ehrlich gesagt überhaupt nicht zu interessieren. Nathalie, Emir und ich trotten einfach nur hinterher, jeder in seinem eigenen Tempo. Die Luft ist stickig, sie drückt dich runter. Der Schweiß läuft in Strömen, besonders zwischen Rucksack und Rücken. Jeder Schritt auf dem unebenen, matschigen Boden fordert höchste Konzentration, Ich starre nur noch stumpf auf den Boden vor mir und richte meine gesamte Aufmerksamkeit darauf, den nächsten Schritt richtig zu setzen. Links und rechts existiert nichts mehr für mich. Der Dschungel ist für uns nur noch ein einziges, grünes Nichts. Doch Rogello scheint zu wissen, wohin es geht. Sein Blick ist nach vorne gerichtet und sein Schritt unerschütterlich sicher. Eigentlich würde ich am liebsten aufgeben, mich in den Matsch fallen lassen und einfach nur heulen. Aber diese Blöße kann und will ich mir – so fertig ich auch bin – vor Nathalie und Emir nicht geben.
Nach rund 40 Minuten sind wir aus dem Dschungel draußen und erreichen einen Traum-Sandstrand – ein Paradies, wie man es eigentlich nur aus Bildern kennt und um das mich wohl jeder beneidet. Doch statt Freude zu empfinden, bin ich nur noch kaputt. Nathalie lässt sich in den Sand fallen, Emir schüttelt den Kopf. Und ich? Ich starre auf das noch immer tobende Meer. Viel vertrauenserweckender als drüben an der Ranger-Station sieht es nämlich hier aber auch nicht aus. Die Wellen etwas weiter draußen sind immer noch weit mehr als mannshoch.
Dramatische Fahrt übers Meer
Dann erreichen wir Rogellos Haus. Wo wir sind, kann ich auch später nicht mehr herausfinden. Jedenfalls liegt da vorne liegt unser Boot. Ein Ausleger, rund sechs Meter lang, einen Meter hoch und knapp einen Meter breit. Unbeweglich liegt es da auf einem Kiesstrand.
Mit viel, viel Muskelkraft und Enthusiasmus ziehen es seine Kinder rund dreißig Meter Richtung Meer, bis es dann vom Wasser getragen wird und schwimmt. Dann verstauen wir unser Gepäck im Bootsrumpf und wickeln das Ganze in Plastiktüten ein. Rogello wirft den Diesel an und ab geht’s, rechtwinklig in die Brecher, die heute ihrem Namen alle Ehre machen, denn nach kurzer Fahrt brechen sie uns.
Bereits nach kurzer Zeit stimmt irgendwas mit dem Motor nicht und wir sind ein Spielball der Wellen. Die Wellen-Kronen sind jetzt so hoch, dass ständig Wasser ins Boot schwappt. Uns dreht’s wie im Karussell. Ist das wirklich Realität oder bin ich gerade Teil eines fürchterlichen Alptraums? Aber wenn das jetzt das Ende sein soll, habe ich wenigstens etwas erlebt. Nathalie, Emir und ich liegen flach im Boot während Rogello am Motor herumwerkelt. Wahrscheinlich Wasser im Vergaser, denke ich, kenne das von meiner „Viktoria Hummel“. Aber helfen kann ich nicht. Ich bin so damit beschäftigt, nicht über Bord zu gehen. Rogello scheint das Problem inzwischen erkannt zu haben, schraubt den Vergaser ab, wischt ihn aus und baut er ihn wieder ein. Noch einmal die gleiche Prozedur: Sprit ansaugen, träufeln, ziehen – bis der Motor endlich läuft, erst unruhig, und dann immer gleichmäßiger. Die Fahrt kann weitergehen.
Mit laufendem Motor liegt das Boot jetzt viel ruhiger im Wasser, aber mir ist noch kotzübel. Wäre was im Magen, ich würde mich übergeben. Stattdessen lecke ich mir die Gischt von den Lippen, was nur noch mehr Durst macht. Kaputt liegt ich im Bootsrumpf und bin fertig mit der Welt.
Die Wellen sind immer noch recht hoch, aber das Boot macht jetzt seinen Weg, langsam aber stetig. Jeder Stoß der See gegen den Rumpf hallt dumpf in meinen Knochen wider, doch das regelmäßige Tuckern des Motors gibt uns ein wenig Sicherheit. Nach gut zwei Stunden wird der Wind schwächer, und endlich taucht beidseits Land am Horizont auf – schemenhaft zwar, aber eindeutig. Es sieht aus, als wären wir in einen Kanal oder eine Bucht eingelaufen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum der Wind merklich nachgelassen hat.
Langsam bricht die Sonne durch die Wolken und wirft lange, schmale Lichtstreifen aufs Wasser. Die See wirkt nun ruhiger, fast einladend. Ich kann mir nicht helfen, aber hätten wir bei der Ranger-Station nicht ein, zwei Stunden warten können? Das hätte uns sicher einiges erspart. Doch diese Gedanken sind sinnlos. Wir waren im Südchinesischen Meer und wir sind immer noch unterwegs. Aber das Ziel ist in Sicht. Langsam bricht auch die Sonne durch. Dann ist endlich Land in Sicht. „Macarasdas“, sagt Rogello trocken.
Rückkehr in die Zivilisation
Nach insgesamt 3½ Stunden haben wir die 30 km lange Überfahrt, die selten weiter als 300 m von der Küste entfernt verlief, geschafft. Genau hier sind wir am Freitag mit dem Auslegerboot losgefahren. Erinnert ihr euch? Damals hat mich der Typ mit der Rumflasche doch so vollgelabert.
Die Bootsfahrt haben wir nun überstanden, aber die Fahrt auf dem Jeepney wird auch noch mal ein „Abenteuer“ werden. Eigentlich wäre der Jeepney Richtung Baheli und Puerto Princesa bereit loszufahren, doch Rogello spricht mit dem Fahrer. Nathalie, Emir und ich bekommen Gelegenheit für eine Cola und eine Schale Reis mit Fleisch-Stückchen. Fünfzig Pfennig kostet das. So wenig oder so viel kostet hier das Überleben.
Nachdem wir gestärkt sind, heißt es aufbrechen. Ein neues „Abenteuer“ steht an. Es heißt „Überlandfahrt auf dem Dach des Jeepneys“. 50 Kilometer sind’s bis Puerto Princesa. Bei regulärer Fahrt dauert das rund zwei Stunden. Obwohl die Straße – ich kenn’s ja von der Herfahrt – alles andere ist als eine Straße, die Brücken zum Fürchten sind und der Jeepney oft am Umfallen ist, sind wir jetzt doch einigermaßen froh hier oben. Es geht „nach Hause“. Spätestens heute Abend sind wir wieder in der Zivilisation.
Gegen vier Uhr nachmittags erreichen wir das Jeepney Terminal in der Malvar-Street in Puerto Princesa. Endlich wieder „zu Hause“.
Zurück ins „Duchess“
Und obwohl es nur 1½ km sind bis zum „Duchess Pension House“, nehm’ ich mir heute lieber ein Tricycle. Laufen kann und will ich einfach nicht mehr. Nicht um alles in der Welt. Die Bootsfahrt heute hat mich dermaßen kaputtgemacht und von der Fahrt auf dem Jeepney-Dach tun mir auch noch alle Knochen weh. Ich verabschiede mich von Nathalie und Emir und steig’ ins Trike. Ich will jetzt nur noch eins. In ein Bett! Ich wink’ mir ein Tricycle heran und 5 Minuten später bin ich auch schon die Manolo- und die Valencia Street runter und im „Duchess Pension House“.
Nachdem ich am Freitag gegangen bin ohne Edwyna zu sehen und ohne zu zahlen – das Mädchen, das mir das Frühstück machte, sagte, sie weiß nicht was das kostet – ist mein Zimmer natürlich weg. Ich hatte dem Mädchen zwar gesagt, das sich das Zimmer behalten möchte, das kam aber wohl ganz offensichtlich nicht an.
„What happened to you? Where have you been?“ „Later, first I want to go into my room and take a shower. Can I get another coffee afterwards ?” „Sure, I’ll make some for you.“
Lucille, eine von Edwynas Enkelinnen, bringt mich hoch in mein neues Zimmer: Sechs Quadratmeter, eine schmale Matratze an der Längswand und an der Decke ein Ventilator. Mensch, freu ich mich auf heute Nacht. Endlich wieder ein richtiges Zimmer, endlich wieder ein richtiges Bett. Ich werf’ den Rucksack in die Ecke und geh’ duschen. Dann gruschtel ich mir was zum Anziehen aus dem Rucksack. Mit nassen Haaren geht’s wieder runter.
Ich trink noch einen Kaffee, ess’ 2 Stück Kuchen. Dann will ich zahlen – auch das Zimmer – doch Edwyna meint: „You can do both tomorrow.” Ich erzähl Edwyna kurz das Wichtigste der letzten drei Tage und dann will ich nur noch eins: In mein Bett.
< zurückblättern | umblättern > |
Traum und Woche 1 2. Dez. -8. Dez. 1988 |
Woche 2 8. Dez. -15. Dez. 1988 |
Woche 3 15. Dez. -22. Dez. 1988 |
Woche 4 22. Dez. -29. Dez. 1988 |
Woche 5 29. Dez. -5. Jan. 1989 |
Woche 6 5. Jan. -10. Jan. 1989 |