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Freitag, 2. Dezember 1988


Abschied und Reisefieber


Am 2. Dezember 1988, meinem 34. Geburtstag, war es dann wirklich soweit. Zum letzten Mal vor der Reise habe ich heute bei meiner Freundin in Welzheim geschlafen. Wir hatten noch in meinen Geburtstag hinein gefeiert und sind dann erst am frühen Morgen ins Bett. Gegen 7:00 Uhr, wir sind grade am Frühstück, durchdringt ein Telefonklingeln den Raum. Meine Mutter und mein Bruder, lassen es sich nicht nehmen, mir Geburtstagsgrüße auszurichten und für die Reise alles Gute zu wünschen.

Mit der Eisenbahn nach Zürich


Nach dem Frühstück geht’s dann gegen 8:00 Uhr los meine eigene Wohnung nach Geradstetten, wo ich noch einige Dinge erledigte, z.B. wollte ich noch ins Landratsamt nach Waiblingen mein Auto abmelden. Nachdem das in Waiblingen nun alles so reibungslos geklappt hat, mach’ ich mich auf den Weg zurück nach Gera. Auf dem Heimweg hoch in die Lämmle-Straße hol’ ich mir zur Stärkung noch ‘nen Leberkäs’. Den will ich nachher noch verputzen. Zeit is’ ja noch. Der Zug nach Stuttgart geht zwanzig vor zwölf. Noch etwas mehr als eine Stunde Zeit. Zeit genug für ‘nen Gang in die Badewanne. Wer weiß, wann ich wieder in einen solchen Genuss komme. Doch von Genuss keine Spur: Alle möglichen Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich denke zurück, wie das alles begann…

Ich erinner’ mich auch noch an meinen ersten Brief:
Und dann kam der Antwortbrief: „Ich lebe in Metro-Manila. Die Stadt hat drei Millionen Einwohner, und wir leben im 18. Stock eines Hochhauses.“ So hat man mir meinen „Südsee-Traum“ zum ersten Mal zerstört…

25 Jahre Brieffreundschaf

Ich will jetzt nicht mehr baden! Ich fühl“„ mich überhaupt nicht wohl in der Wanne. Ich fühl’ mich auch nicht wohl draußen. Ich hab’ ganz schön Bammel. Auch der Leberkäs“, den ich vorhin beim Metzger geholt hab’, ist nicht das Richtige. Er wiegt zwar fast ein halbes Pfund, aber er füllt nicht das Loch aus, das ich schon seit dem Aufsteh’n im Magen hab’. Das flaue Gefühl geht dadurch auch nicht weg. Ich hab’ ganz schön Reisefieber? Was wird wohl alles noch auf mich zukommen in den nächsten Wochen? Aber was sollen all diese blöden Gedanken? Jetzt hätt’ ich ohnehin keine Chance mehr, noch irgendwas zu ändern. Der Aufbruch steht unmittelbar bevor. Nichts, aber auch gar nichts kann und soll mich jetzt noch aufhalten. Der Rucksack ist vollgestopft mit – ich weiß gar nicht mehr, mit was allem. Aber so nebeneinandergelegt auf dem Küchentisch war das doch eine ganze Menge. Dabei waren Unterhosen, Socken und T-Shirts überhaupt noch nicht dabei. Die sollten doch auch mit – und natürlich der Anorak – und der Hut…

10:50 Uhr. Auf dem Weg zum Bahnhof, wie ich so mit meinem Seesack kämpfe (ich hab’ den Rucksack da reingestopft, damit im Flugzeug und auf den Transportbändern die Schlaufen nicht abgerissen werden) keimt das Reisefieber immer mehr auf, als ich mit meinem schweren Seesack kämpfte. Das Zeug ist saumäßig schwer, und beim Gedanken, damit später durch den Dschungel laufen zu müssen, kommt so richtig Stimmung auf. Also wirklich, ich weiß nicht, entweder werd’ ich dabei ein Muskelprotz werden oder aber, was viel wahrscheinlicher ist, ich sterb’ tot.

Bahnhof in Geradstetten. Die Uhr zeigt 11:11 Uhr. Wie oft schon hab’ ich hier gesessen und auf den Zug zur Uni gewartet! Heute jedoch geht’s nicht dorthin, heute geht’s raus. Raus aus der Enge, raus aus den Zwängen, hinein ins Abenteuer. Gegen 11:20 Uhr läuft der Zug nach Stuttgart ein. das flaue Gefühl im Magen ist immer noch da. Ja, ich glaub’, es ist sogar noch stärker geworden. Und so steigen wir ein, wir beide: Das flaue Gefühl und ich.

Ursels Abschiedsbrief

Bereits nach zehn Minuten Fahrt steig’ ich in Rommelshausen aber wieder aus. Ein weiterer wichtiger Abschied steht noch bevor: Ursula Steigelmann wartete nämlich am Bahnhof, um sich auch von mir zu verabschieden.

Zum Abschied am Bahnsteig macht sie mir eine Reihe besonders lieb ausgesuchter Geschenke und jedes Geschenk hat etwas Eigenes: Da ist eine Disco-Schlange, welche, so meint Ursel, die einzige Schlange sein soll, der ich auf meiner Reise begegne. Milky Way sei synonym dafür, immer den richtigen Weg zu finden, und ein Lion-Riegel soll dafür sorgen, im Bedarfsfall Löwenkräfte zur Verfügung zu haben. Im Dschungel könne dies bestimmt mitunter sehr nützlich sein. Abgerundet wird die Liste der Geschenke durch ein Kinderschokolade-Ei. Ursel meint, jeder Mensch brauche etwas zum Spielen, ganz besonders aber ich! Spielend soll ich auch dieses Abenteuer hinter mich bringen und immer ein Lächeln bewahren. Sie legt mir ans Herz, nie zu vergessen, wie wichtig es sei, den Moment zu genießen.

Das war schon auch emotional, doch darüber kann ich nicht lange nachdenken. Der Zug kommt. Einsteigen, Vorsicht am Zug. Zurückbleiben! Die S-Bahn setzt sich in Bewegung, ich bleib’ stehen – natürlich im Zug. Zwar gäbe es Sitzplätze genug, aber es ist einfach zu erschöpfend, den schweren Seesack ins Gepäcknetz zu wuchten. So bleib’ ich mit dem Gepäck am Eingang stehen. Außerdem bin ich phlegmatisch und konfus. Warum nur? Waiblingen, Fellbach, Cannstatt. Die Stationen fliegen nur so vorbei. Ich bin wie in einer anderen Welt. Nervös blättere ich in meinem Reise-Handbuch. Grad so wie früher, wenn ich morgens vor Klassenarbeiten oder Prüfungen noch das Letzte aus meinem Manuskript in mich hineingezogen habe, in der irrigen Hoffnung, es würde dann besser gehen.

Tiefgeschoß Stuttgart Hauptbahnhof. Mit Mühe wuchte ich meinen Seesack aus der S-Bahn Richtung Rolltreppe. Das Ding wird immer unförmiger und immer schwerer. Dazu kommt noch meine Kameratasche auf der Schulter und die Plastiktüte mit Ursels Geschenken in der Hand. So schlepp“ ich mich hoch Richtung Bahnsteighalle.

„D 485 Barbarossa“ nach Milano fährt – wie soll’s auch anders sein – ausgerechnet auf Gleis 16. Weiter weg von der S-Bahn gibt’s in Stuttgart sonst kein Gleis mehr. Ich quäl’ mich notgedrungen rüber. Koffer-Kuli is’ nich’.

Da der Zug schon mal dasteht, steig’ ich ein. Hab’ mir vorsorglich ‘nen Platz reservieren lassen. Doch das war anscheinend überhaupt nicht nötig, kein Mensch da. Sieben Minuten noch, bis es abgeht, vielleicht kommt ja noch jemand. Es ist niemand mehr gekommen. Da sitz’ ich nun: Allein im Abteil für sechs, unterwegs ins Ungewisse? Angstvoll les’ ich in meinem Reise-Handbuch…

… es sind die Gegensätze, die dieses Land für den Reisenden so interessant machen: die quirlende Weltstadt Manila und einsame Inseln mit herrlichen Stränden und Korallengärten; Orte, die fast nur aus Bars bestehen, und Bergstämme, die nach eigenen Gesetzen leben; gigantische Reisterrassen und weite Zuckerrohrfelder; aktive Vulkane und hallengroße Höhlen mit unterirdischen Flüssen und Seen; schattige Palmenwälder und dichte Dschungel. Nicht zu vergessen die ungewöhnlich freundlichen Menschen, die anscheinend immer lachen und fröhlich sind…

Böblingen (13:00), Horb (13:26), Rottweil (13:55)… Keine Sau steigt zu.

Bahnfahrt nach Zürich

Es ist stinklangweilig, und das Reise-Handbuch kenn’ ich nun auch schon bald auswendig. Aber was soll’s? Es ist der Freitagnachmittag und die erste Adventwoche ist schon fast rum. Das Weihnachtsgeld ist da und die Leute kaufen wohl lieber Weihnachtsgeschenke, statt im Zug zu hocken und in die Schweiz zu fahren. Vielleicht ist die Strecke eher was für Bummler, während die Meute über Karlsruhe und Basel düst? Inzwischen haben wir Tuttlingen, Singen und die Grenze hinter uns gelassen. Linker Hand tobt der Rheinfall.

Der Zug fährt jetzt langsamer und so kann ich die riesigen Wassermassen nicht nur sehen, sondern auch noch schnell ein flüchtiges Foto machen.

Noch etwas mehr als eine Stunde, dann sind wir in Zürich. Bin gespannt, wie’s dort weitergeht bis zum Flughafen… Jedenfalls, Zeit ist noch reichlich. Die Maschine nach Singapur startet – wenn ich’s richtig im Kopf hab’ – erst so gegen acht heut Abend.

Warten am Züricher Flughafen


Die Fahrt von Stuttgart hierher war geprägt von einer Mischung aus Nervosität und Vorfreude. Nun steh’ ich also da mit meinem Seesack – steh“ da wie ein Depp. Nirgendwo auf dem gesamten Flughafen auch nur die geringste Spur von Singapore Airlines. Fühl’ mich ganz schön angeschmiert. Bin ich vielleicht auf dem falschen Flughafen? Da steht er nun, der „King of Globetrotters“ und hat nicht die leiseste Spur einer Ahnung. Blamieren will ich mich aber auch nicht.

Doch nach einigem Umherirren klärt mich eine freundliche Stewardess auf: „In Zürich wird bei SWISSAIR eingecheckt und auch alles Gepäck bei SWISSAIR aufgegeben. Unabhängig davon, mit welcher Fluggesellschaft man fliegt.“ So einfach ist das, wenn man’s weiß!

Ich war schon recht früh in Zürich, weil ich sichergehen wollte, unter keinen Umständen das Flugzeug nach Singapur zu verpassen. Nun ist es an der Zeit, die letzten drei Stunden bis zum Flug zu überbrücken. Ich hab’ Kohldampf wie ein Stier, und im ganzen Flughafen ist kein richtiges Restaurant zu finden. Soll ich in die Stadt gehen? Drei Stunden hab’ ich ja noch Zeit. Nein, besser nicht! Nicht, dass ich noch den Flieger verpass’. Das wär’ nicht so angenehm. So würg’ ich mir an einem Kiosk eine Bockwurst rein und ein Bier. Beides war – sagen wir mal so – nicht gerade ein kulinarisches Highlight. Die Zeit will und will nicht vergehen. Was kann man sonst noch tun, wenn man wartet? Die Jeans hängen an den Knien. Ich hab’s! Ich lass“ mir beim „Mister Minit“ ein Loch in meinen Gürtel machen. Das dauert eine Minute. Wieder eine Minute weniger bis zum Start.

Das Gepäck ist inzwischen aufgegeben, und ich hab’ jetzt nur noch meine Fototasche bei mir. So kann man sich schon viel besser bewegen. Im Kiosk besorg’ ich eine Postkarte vom Innern eines Jumbo-Cockpits. Die Karte schreib’ ich an Bärbel. Schon jetzt vermisse ich sie sehr.

Abflug ins Ungewisse


Endlich, es ist soweit: SQ 84 nach Singapur wird aufgerufen. Zum ersten Mal in meinem Leben betrete ich einen Jumbo-Jet. Ich kann nur noch staunen. Das ist einfach nur Wahnsinn! Ich hab’ Platz 19E, kurz hinter der Tragfläche. Neben mir eine tschechische Familie. Kein Englisch, kein Deutsch, kein Nix! Hengl sprachlos! Das kann ein langer Flug werden!

Flug nach Singapur

Kurz nach dem Start wird schon das Abendessen aufgetischt. Ich bin am Staunen, was da alles geboten wird. Die Auswahl ist beeindruckend und reichhaltig, mit Speisen für jeden Geschmack. Deshalb will ich die Speisekarte hier kurz wiedergeben:

  • Fischfilet mit Gurken und frischen Kräutern
  • glasierte Karotten
  • grüne Bohnen
  • Maitre d „Hotel Kartoffeln
  • Lammkotelett mit Pfefferminze
  • gebutterter Zwergkürbis
  • überbackene Nudeln
  • Käse und Kräcker
  • Zitronenschnitte

Das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Während ich noch die Karte studiere, erklärt der Kapitän die Route: Der Flug soll gehen über Zypern, Saudi-Arabien, Indien…

Im Bordvideo läuft jetzt „Falsches Spiel mit Roger Rabbit“. Das interessiert mich weniger. Ich beobachte vielmehr die emsigen Stewardessen, die leise vorbeihuschen. Ihre mit filigranen Blumen- und Batikmotiven versehenen, seidenen Uniformen sind dem traditionellen „Sarong Kebaya“ nachempfunden. Sie sind das Markenzeichen von Singapore-Airlines und ein Symbol für Gastfreundschaft und Stil – wohl ebenso wie das Glas Weißwein, das mir eben gereicht wird. Ein Hauch Exotik schwebt in der Luft, während ich den ersten Schluck zu mir nehme. Das Weinglas in der Hand, das Abenteuer vor mir, zurückgelehnt in einem der äußerst bequemen Sessel des Singapore-Airlines-Jumbos läßt’s sich leben.

Unter uns verschwinden langsam die letzten Lichter, dann umgibt uns Dunkelheit. Nur noch das rhythmische Blitzen der Positionslichter an den Flügelspitzen durchschneidet den Nachthimmel. Vergangene Nacht kaum geschlafen und überwältigt von den Aufregungen der allerersten Weltreise tauch’ ich recht schnell weg.


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